Still über Berlin

Ich bin allein. Es ist kurz vor zwölf. Ich stehe hier oben auf dem Dach – und es ist… still. Also wirklich still. So eine Stille, wie man sie in Berlin nicht oft erlebt. Nur die Vögel zwitschern, irgendwo in der Ferne tönt ein Martinshorn – ansonsten: nichts. Nur ich. Und diese Aussicht.

Unter mir: Berlin. Und zwar in Bewegung. Autos, Hupen, Sirenen, Eile. Alles wuselt, schiebt, fährt irgendwohin. Und ich? Ich stehe einfach nur da. Kein Termin, kein Ziel. Nur der Moment.

Ich lasse meinen Blick schweifen: Potsdamer Platz, Siegessäule, Kanzleramt. Alles da. Und während ich so gucke, merke ich plötzlich: Da kommt etwas hoch. Nichts Dramatisches, nicht wie in all den Filmen. Es ist so eine Welle aus Erinnerungen – langsam, fast schleichend. Als würde mein Kopf auf „Diashow“ schalten.

Abende mit goldfarbenem Himmel. Gespräche, bei denen man nicht wusste, in welche Richtung sie gehen. Musik, viel zu laut. Luft, die nach Sommer roch. Gesichter voller Lachen. Und Tränen. Nicht die hübschen, filmreifen. Sondern die echten. Die, die schmerzen. Dieses Dach kennt sie alle. Die leichten Stunden. Die schweren. Und die, die keiner so richtig einordnen kann.

Und dann – als hätte jemand das Timing genau abgestimmt – fangen sie an zu läuten: die Sanctus-Glocken. Ihr Klang legt sich über die Stadt, als würde Berlin für einen Moment innehalten. So wie ich. Ich bleibe noch ein bisschen. Nur ich – und das, was war. Und vielleicht das, was bleibt.

Drei Tage später. Montag. Das war’s. Alles gesagt, alle umarmt, alles durchlebt. Kein Abschied für immer, aber einer, der spürbar ist. Tränen? Erst versteckt, dann doch geflossen. Man denkt, man hat’s im Griff. Dann reicht ein Halbsatz, und es kippt.

Ich mache mich auf den Weg zum Alex, mein Zug fährt um 18:17 Uhr. Es regnet. Nicht viel – nur so ein leiser, nasser Gruß von oben. Als ich das Café verlasse, bleibe ich stehen. Schon wieder Glocken. Die gleichen wie auf dem Dach. Zufall? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Aber mein Körper reagiert, noch bevor mein Kopf hinterherkommt. Gänsehaut. Und Tränen. Leise kullern sie meine Wangen herab. In mir wird es still. Berlin rauscht weiter. Wie immer. Und ich gehe. Voll von allem, was war – leer für das, was kommt. Und irgendwo dazwischen.

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